Donnerstag, 12. Mai 2016

Jenseits des Willens

Berghaus Oberbölchen mit Schwarzwald im Hintergrund

Die Saison ist angelaufen, ich bin am 30. April 300 Kilometer gefahren. Kurzfristig hatten Walter und Urban verkündet, dass die höhenmeterstrotzende Bölchen-II-Strecke nicht fahrbar ist, so dass ich den bereits im Vorjahr gefahrenen Bölchen-I-Brevet antrat. Ich erinnere mich an wunderschöne Anstiege zum Haldenhof im Schwarzwald und zum Bölchen im Schweizer Jura, aber auch an Schweizer Talstraßen mit viel Autoverkehr.

Der Wetterbericht sorgte im Vorfeld für ängstliche Diskussionen, aber ich schaute gar nicht mehr nach und packte meine Regensachen ein. Nach dem Frühstück rollte ich mit Albrecht los, wir waren die letzten der überschaubaren Gruppe von Randonneuren an diesem Samstag. Albrechts Rad war schon vielfach langstreckenerprobt und wies mit einem Paris-Brest-Paris-Schriftzug auch stolz darauf hin, wohingegen mein neues Rad seinen ersten Brevet antrat.

Teils grau, teils blau zeigte sich der Himmel, und die Sonne ließ sich blicken als wir den Pass am Haldenhof erklommen. Oben lag frischer Schnee der letzten Woche, und eine sprudelnde Quelle füllte die erste leere Flasche wieder auf. Ein paar Klamotten brauchten wir schon für die Abfahrt, aber unten im Wiesental überlegte ich, warum ich kein kurzes Trikot dabei hatte.

Zum ersten Stempel waren wir am Rhein, und ich freute mich schon auf das Nudelbuffet im Berghaus Oberbölchen. Bis dahin war es freilich noch ein gutes Stück Arbeit, um den Berg zu erreichen. Der Anstieg zum Bölchen liegt zwar wunderschön in den steil abfallenden Kalkwänden des Jura, aber die gleichmäßig steile Straße liegt mir irgendwie nicht. Vielleicht war der Magen einfach schon zu leer. Einige Minuten nach Albrecht kam ich im Berghaus an, und zu einem riesigen Berg Spaghetti gab es eine Rivella.

Mit vollem Magen stiegen wir auf die Räder und bemerkten den aufziehenden Wind und die dunklen Wolken am Himmel. Es sollte uns wohl nicht erspart bleiben. Auf der steilen Abfahrt nahm ich wohlwollend Notiz von meinen Scheibenbremsen. In Richtung Moutier zieht sich die Straße ganz langsam wieder empor, und dieser ewige seichte Anstieg wurde neben dem Gegenwind von einsetzendem Nieselregen versüßt. Ich will mich nicht beschweren, wir hatten immerhin 8 trockene Stunden bis hierhin genossen.

Nach wenigen Minuten wurde der Regen stärker, und ich fuhr in ein Buswartehäuschen um die Regensachen anzuziehen. Der Regen war bereits relativ stark und sollte bis zum Ziel in Freiburg nicht nachlassen. Albrecht hatte offensichtlich nicht besonders viele Regenklamotten dabei, zumindest rauschte er nach kurzem Stop an mir vorbei. Nun ging es also im Regenstrom den dritten großen Anstieg hinan, und der Stempel im Dörfchen Souboz zerlief, sobald er auf die Brevetkarte gedrückt war. Als ich gerade weiter fahren wollte, kam Albrecht angefahren. Irgendwo hatte ich ihn scheinbar überholt.

Auf der dritten langen Abfahrt, nun unter Nässe, war ich abermals erfreut über die Scheibenbremsen. Aber ganz besonders freute ich mich doch über die Schutzbleche, mit denen mein neues Rad nun endlich ausgerüstet war! Auch wenn das bei solchen Regenmengen unbedeutend erscheint, war ich doch froh, dass zumindest von unten kein Straßenschlamm hochgeschleudert wurde.

In Delémont suchten wir Schutz an einer Tankstelle und genehmigten uns ein frühes Abendmahl. Albrecht deutete kurz auf das Schild, das zum Bahnhof zeigte, doch ich nahm kaum Notiz davon. Der Jura zog sich noch etwas dahin, aber schließlich verspürten wir französischen Boden unter unseren Pneus. Nun folgte also der Teil, der mir im letzten Jahr psychisch das Genick gebrochen hatte. Damals war der Regen schon wieder vorbei und es duftete von allen Seiten nach Bärlauch, aber meine Lust und Laune waren im Keller. Die flachen Kilometer bis zum Rheinübergang bei Fessenheim waren mir unerträglich gewesen, und ich konnte Reinhold nur im Kriechgang folgen. Schon im letzten Jahr kamen mir Zweifel, ob ich ein Brevet alleine mit meinem Willen überstehen könnte. Viel bedeutsamer, so schien es mir, war doch die Lust, die den Geist am Laufen hält.

Und so schien ich dieses Jahr über Unlust und Willensstärke hinweg gekommen zu sein und fuhr, dem dauernden Regenfall in mein Gesicht zum Trotz, halbwegs beschwingt durch die Ausläufer des Sundgaus und am Rhein dahin. Der Wind hatte natürlich gedreht, so dass wir nicht schnell voran kamen. Albrecht war eindeutig besser in Form und stemmte sich den Großteil dieses Abschnitts gegen den Wind. Einen weiteren Randonneur lasen wir noch auf, er hängte sich bei uns ran.

Es scheint mir unerklärlich, aber meine Stimmung sackte nicht ab. Den immerwährenden Regenfall auf dem Gesicht nahm ich schon gar nicht mehr wahr, und ich hatte ja nette Gesellschaft. Anhalten kam auch nicht in Frage, schließlich maß das Thermometer in dieser Nacht nur 4 Grad Celsius. Die Situation musste nicht durch einen diktatorischen Willen gebändigt werden, meine gute Laune selbst sorgte für die Weiterfahrt. Immerhin durfte ich Rad fahren!

Natürlich war es nicht schön. So waren meine viel gelobten Neoprenhandschuhe durchsogen, und die Kälte in meinen Fingern machte das Schalten zur Unmöglichkeit. Meine Brille war vom Regen undurchsichtig, und im Scheinwerfer eines Autos konnte ich kaum noch etwas sehen. Niemand glaubte noch daran, dass der Regen nach ließ.

So verstrichen die Kilometer, und wir näherten uns Fessenheim. Dort umrundeten wir das Atomkraftwerk und überquerten den Damm des viel älteren Stauwerks, das von Zeus geziert wird. Noch kurz durch den Wald, dann leuchtete die Autobahntankstelle Bremgarten vor uns. Obwohl Freiburg schon so nah war, setzten wir uns in das Schnellrestaurant. Dort verbrachte ich neben dem Verzehr eines Burgers einige Zeit mit dem Heißlufttrockner auf der Toilette, um meine Klamotten zu trocknen.

Mit warmen Fingern stiegen wir auf unsere Räder und nahmen den letzen Abschnitt in Angriff. Eine Baustelle brachte uns vom vorgegebenen Weg ab, aber ich kenne mich in der Gegend gut aus. Nachts um 1 Uhr kann man, auch bei anhaltendem Regen, gut die Bundesstraße 3 befahren.

So trudelten wir um halb zwei Uhr Nachts wieder im Augustiner ein. Obwohl alles schon recht dunkel aussah, saßen doch noch einige Randonneure dort im Trockenen. Hochachtung wurde uns zugetragen, nach 8 Stunden Sonne auch 8 Stunden Regen überstanden zu haben. Die allerseits gute Stimmung harmonierte sehr gut mit meiner eigenen, und so breitete sich Zufriedenheit aus, diesen Tag auf dem Rad abgeschlossen zu haben.