Montag, 3. März 2014

"Wintertour"

Die Abendsonne scheint, kurzes Trikot, warme Luft umwabert die Haut auf Armen und Beinen. Die Reifen surren auf dem trockenen Asphalt. Im Anstieg läuft der Schweiß unter dem Helm hervor, und in der Abfahrt wird er vom Fahrtwind zerstäubt.

Im Sommer ist Rennradfahren ein Genuss. Niemand kommt im Winter auf die Idee, sich ein Rennrad zuzulegen und loszufahren. Hat man aber einmal damit angefangen und Gefallen daran gefunden, beginnt man über den Zyklus der Jahreszeiten nachzudenken. Der Frühling bietet ganz neue Reize, auch wenn es frühmorgens an den Fingern schon mal empfindlich kalt werden kann. Ein Herbsterlebnis in der Pfalz mit seiner Farbenpracht und seinen Gerüchen empfehle ich wärmstens. Und der Winter?

Erst 2013, in meinem beginnenden sechsten Rennradjahr, denke ich ernsthaft über Wintertouren nach. Die Anforderungen an die Klamotten sind größer als sonst, da man genauso viel schwitzt, aber viel schneller friert. Hände und Füße stellen ein scheinbar unlösbares Problem dar. Aber die Saison der Randonneure beginnt früh - in Norddeutschland erstaunlicherweise noch früher als im Süden. Dort kann man Anfang März schon mal mit etlichen Minusgraden und Schneeverwehungen kämpfen. Wann soll man da anfangen zu trainieren?

Echte Randonneure fahren den Winter einfach durch. Nach meinen ersten winterlichen Gehversuchen im letzten Jahr stehe ich an diesem Sonntagmorgen neben meinem Rad. Den halben Winter in Australien rumgebracht, sämtliche Grundausdauer verflogen. Dennoch, die Sonne kündigt sich an, das Thermometer zeigt 9 Grad, im Tagesverlauf wird es wohl noch wärmer. Dieses Jahr kann ich kaum ernsthaft über eine Winterradtour schreiben.

Im Morgenlicht fahre ich über den Ring und die Brücke nach Ludwigshafen, das ich nur Sonntags freiwillig mit dem Rad durchquere. Meine Lichtanlage habe ich vorsichtigerweise eingeschaltet, als ich auf der zweispurigen Ausfallstraße an der BASF vorbeirausche. Gebaut für Nachtfahrten ohne jegliche Straßenbeleuchtung, dient sie mir gelegentlich auch als Tagfahrlicht. Angetrieben wird die Lichtanlage von einem Nabendynamo, der keinen spürbaren Widerstand erzeugt.
Hinter Worms erreiche ich die alte B9, eine flache Rollerstrecke mit wenig Verkehr, der auf die neue B9 weiter östlich ausgelagert ist. Am Rand der Weinberge fühlt sich die Sonne nach Frühling an, und ein netter Rückenwind schiebt mich in der Ebene nach Norden.

Erst zwei Mal saß ich dieses Jahr auf meinem Pinarello. Dabei habe ich mir zu Weihnachten einen Ledersattel montiert, der mir auf langen Touren angenehmes Sitzen garantieren soll. Früher sind alle Rennradfahrer auf Leder gesessen, bis der Leichtgewichtswahn Einzug erhalten und die Sättel durch Carbonplatten verdrängt wurden. Meinen neuen Sattel möchte ich heute ein paar Stunden einsitzen.

Heute möchte ich 130 Kilometer fahren, größtenteils flach. Um dennoch meine Beine zu testen, biege ich kurz vor Oppenheim, wo sich der Rhein mit seinem linken Ufer bis an die Weinberge heranschiebt, scharf nach links ab. Wellige Hügel lassen mich die Freude an höhenmeterreichen Sommertouren erahnen, und eine schnelle schnurgerade Abfahrt belohnt die kurze Kletterleistung. In Nierstein, zurück am Rhein, habe ich schon über die Hälfte der Strecke geschafft und vertilge zwei Riegel.

Nun drehe ich gegen den Wind. Für die Rückfahrt nach Mannheim habe ich mir den Rheinradweg ausgesucht, den ich zwischen Mainz und Worms noch nicht kenne. Diese Idee wird, wie fast jede Entscheidung für einen Radweg, sofort bestraft. Wegen umfangreicher Deichausbesserung ist der Weg unter einer matschigen Schlammschicht komplett verschwunden, oder durch diese ersetzt worden. Gutgläubig wie ich bin - "wird nur ein Kilometer sein" - balanciere ich eine gute halbe Stunde lang durch den Morast.

Der Radweg wird etwas besser, und sporadisch wechsele ich auf Straßen. Nach dem Matschkampf und mit dem Gegenwind spüre ich Erschöpfung aufkommen. Durch Industrieanlagen rolle ich am Rhein in Worms ein. Es ist schon nach zwei Uhr, und das entfallene Mittagessen meldet sich. Ich biege auf den Parkplatz von einem Burger-Schnellrestaurant ein. Fast 110 Kilometer habe ich hinter mir, aber bis Mannheim möchte ich nicht auf Reserve fahren. Vor dem "Restaurant" treffe ich auf zwei Beinahe-Randonneure, mit denen ich mich in der späten Mittagspause austausche. Klaus scheint dieses Jahr seinen ersten Brevet bestreiten zu wollen. Bon Courage!

Ich steige wieder auf meinen unauffallend bequemen Sattel meines schlammverkrusteten Rennrades. Durch die Pause bin ich ausgekühlt, und es dauert ein paar Kilometer bis das leichte Zittern von mir abfällt. Die Radnabe surrt nun öfter, da ich nicht permanent in die Pedale trete. Die Kette rasselt nach der Entfettung im Schlammbad, und das Rad sehnt sich nach Pflege.

Nach guten sieben Stunden bin ich wieder zu Hause. Die erste Langstrecke des Jahres ging unaufgeregt über die Bühne. Ich bin zufrieden mit dem astrein genutzten Frühlingstag, und dem erfolgreichen Satteltest.