Aus heimatlicher Verbundenheit möchte ich einen Brevet in Freiburg
fahren. Darüber hinaus habe ich viel über die Strecken gelesen, die von
Urban Hilpert ausgetüftelt werden. Durch meinen kurzfristigen
Entschluss, dieses Jahr in die Randonneurszene einzusteigen, lässt meine
Planung nur den 400er in Freiburg zu, und das auch nur, indem ich
Claudia für dieses Wochenende versetze.
So
finde ich mich am Morgen des 18. Mai in Kirchzarten hinter Freiburg ein.
Mitgebracht habe ich mein treues Rennrad, ausgestattet mit geliehenem
Nabendynamo-Vorderrad und nagelneuem Scheinwerfer. Die Beleuchtung wird notwendig sein, denn 400 Kilometer bewältigen nur sehr schnelle Randonneure im natürlichen Licht eines Tages. Die Lenkertasche ziert ein wasserdicht verpackter Ausdruck des Streckenplans. Zwar habe ich ein GPS-Gerät am Lenker, das mir die Strecke auf einer kleinen Karte anzeigt. Ich möchte mir jedoch nicht ausmalen, was ein Technikausfall bedeutet, wenn ich alleine über verlorene Landstraßen schleiche. In dem Fall sagt mir der Plan noch zuverlässig, wo ich abbiegen muss. Zusätzlich zur
Lenkertasche habe ich eine große Satteltasche montiert, um Regenzeug
unterzubringen. So mische ich mich unauffällig unter die etwa achtzig
angerückten Randonneure, die sich zu einem sagenhaften Frühstück
treffen und dem Start entgegen fiebern.
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Einen Streckenplan lesen will auch gelernt sein |
Um
acht Uhr geht es los. In einer langen Zweierreihe geht es an Freiburg
vorbei bis zum Geiersnest. Eine kleine Gemeinheit,
auf den ersten zwanzig Kilometern gleich fünfhundert Höhenmeter
einzubauen, die aber mit einem wunderbaren Ausblick auf das belohnt, was
uns heute bevorsteht: die Vogesen.
Die 200 Kilometer in Köln waren höhenmeterreich, aber doch relativ schnell vorbei. Die 300 Kilometer zur Ostsee waren flach, hin und wieder gab es steile Rampen. Aber die Vogesen sind eine andere Nummer. Das Höhenprofil zeigt ein halbes Dutzend Zacken an, insgesamt soll ich fast 5.000 Höhenmeter hochklettern. Darunter richtige Pässe und Gipfel, mehrmals geht es über 1.000 Meter Höhe.
In
Scharen stürzen wir uns hinab in die Rheinebene. Auf dem Weg zur
französischen Grenze hefte ich mich an eine Gruppe von fünf Radfahrern.
Ja, ich habe Angst vor einer Alleinfahrt. Der Gedanke an mehrere Hundert
Kilometer ohne den geringsten Windschatten lässt mich an dem gesamten
Konzept zweifeln. Dabei spricht das Regularium des französischen Dachverbands Brevets Randonneurs Mondiaux explizit davon, dass ein Randonneur in der Lage sein muss, einen Brevet im Zweifelsfall
ganz alleine zu meistern. Ich betrachte mich als Anfänger und
wähne mich in einer Art Narrenfreiheit.
Wir
legen ein gutes Tempo vor, rollen beim Atomkraftwerk Fessenheim über den Rhein und
donnern den Vogesen entgegen. Da überholt uns ein Zug von gut dreißig
Radfahrern, der sich allerdings am unmittelbar folgenden Anstieg zum Col
d'Amic in seine Bestandteile auflöst. Nun geht es also los. Ein schmales asphaltiertes Sträßchen schlängelt sich den Berg hoch. Der Wald wechselt sich mit Lichtungen ab, die den Blick in die sonnendurchflutete Rheinebene freigeben. Der Anstieg hat es in sich, unsere Strecke lässt aber den Gipfel des Grand Ballon aus. Es scheint der erste warme Tag des Jahres zu sein,
und ich fahre kurzärmlig, was in diesem durchwachsenen Frühling schon
eine Ausnahme darstellt. Kaum geht es in die Abfahrt, überkommen mich
immense Glücksgefühle und ein paar Freudentränen rollen unter meiner
Sonnenbrille hervor.
Im
Tal füllen wir unsere Wasserflaschen auf, und schon geht es in den
nächsten Anstieg, den Col du Hunsrück. Hier feuerte der Legende nach Udo
Bölts auf einer Etappe der Tour de France seinen Teamkapitän Jan Ulrich mit
den Worten "Quäl' Dich Du Sau!" an. Derartige Aufmunterung brauche ich
noch nicht, und so ist auch dieser Pass bald geschafft. Doch zeichnen sich hier
die Kräfteverhältnisse ab, die in unserer kleinen Gruppe
herrschen: ich komme als letzter oben an.
Auch
hier folgt eine wunderschöne Abfahrt, die bis Belfort jedoch noch von
der einen oder anderen Unebenheit garniert wird. In Belfort fahren wir
zur Touristeninformation, um uns unseren ersten Stempel abzuholen. Bisher
mussten wir am Geiersnest unsere Durchfahrt mit einer Lochzange selbst
nachweisen, und am Col d'Amic gab es eine Kontrollfrage, deren Antwort
auf der Passhöhe zu finden ist, und die wir in unsere Kontrollkarten
eingetragen haben. In Belfort bin ich erschöpft und überlege, ob ich die
Gruppe ziehen lasse und eine Weile alleine weiter fahre. Durch das
Angebot eines Supermarktstopps - es ist Mittagszeit - lasse ich mich zur
Weiterfahrt überzeugen.
Unsere Gruppe ist bunt zusammengewürfelt. Bernhard scheint den Ton anzugeben. Höflich erkundigt er sich, wie wir uns die Mittagspause vorstellen, gibt aber die Marschrichtung vor: "Es ist schön hier, und es gibt sicher gute Drei-Gänge-Menüs. Aber ich bin nicht zum Rasten hier; ich will fahren." Er mag wohl um die sechzig sein und blickt auf viele Brevets zurück. Auch die anderen haben viel Erfahrung. Matthias kommt aus Frankenthal, quasi bei mir aus der Nachbarschaft. Auch er ist schon Paris-Brest-Paris gefahren. Ich bin der Jüngste in der Gruppe.
Auch die Räder unterscheiden sich. Bernhard setzt wie ich auf ein Rennrad, während Matthias sein Pendlerfahrrad lenkt. Ein weiterer Mitfahrer fährt einen klassischen Stahlrahmen, ein leichtes Langstreckenfahrzeug mit Lichtanlage und Schutzblechen, aber ohne unnötige Gepäckträger. Letztendlich beschäftigt sich jeder mit dem Kompromiss aus Geschwindigkeit und Bequemlichkeit.
Nach
der immerhin einstündigen Mittagspause geht es dem Dach des Brevets
entgegen, dem Ballon de Servance. Der Anstieg verläuft entlang eines
Bächleins auf einer geteerten Forststraße mitten durch den Wald.
Mitunter ist es recht steil, und ich komme aus dem Tritt. Zweimal steige
ich ab und schiebe ein paar Meter. Meine Schwester hat mir
am Vorabend angeboten, mich an jedem Ort und zu jeder Zeit abzuholen, sollte ich nicht weiter kommen.
Ich verscheuche den Gedanken.
Dann
ist auch dieser Anstieg bewältigt, immerhin der vierte an diesem Tag,
und auf dem Gipfel warten schon alle auf mich. Sie wollen weiter,
immerhin haben die ihre Pause schon gehabt. Die Abfahrt ist extrem wellig, so dass es einen bei schneller Schussfahrt
schon mal aus dem Sattel hebt. Das trägt nicht zur Erholung bei,
wie ich sie von einer Abfahrt erwarte. Der Gedanke, mich von meiner
Schwester abholen zu lassen, rückt wieder in den Vordergrund. Zwar habe
ich erst die Hälfte der Strecke geschafft, aber die vielen Pässe und
Höhenmeter hatte ich deutlich unterschätzt. Wieder kommen mir ein paar Tränen, dieses Mal aus Verzweiflung. Ich beschließe in meiner
Erschöpfung, sie in Luxeuil-les-Bains anzurufen und mich abholen zu
lassen.
Mit
diesem Beschluss ist mir auf einmal leichter zumute. Bis
Luxeuil-les-Bains geht es etwa zehn Kilometer lang seicht bergab, und
der Windschatten der Gruppe verwandelt die Straße in eine echte
Rollbahn. Luxeuil-les-Bains ist der westlichste Punkt der Tour, und bis
dort haben wir die Vogesen überquert, 220 Kilometer abgesuplt, und einen
Gesamtanstieg von etwa 2.500 Höhenmetern geleistet. Es geht auf acht
Uhr zu, und das Gesprächsthema ist mal wieder das Essen. Bei der
nächsten Pizzeria halten wir und machen Pause mit ein oder zwei Panaché.
Kein Gedanke gilt mehr dem Aufgeben.
Die
Stimmung ist klasse. Ab und zu kommen ein paar Randonneure vorbei, die
nach Essen und einem Stempel suchen oder sich zur Weiterfahrt bereit
machen. Schon am Ballon de Servance ist mir ein Trio aufgefallen, das
offensichtlich aus Mutter, Vater und Sohn besteht. Dort hatte die Mutter einen
Platten, und nachdem ich Vater und Sohn oben Bescheid gegeben hatte,
sind die beiden gleich zu ihr gefahren und haben zusammen den Reifen
geflickt. Sie fahren den ganzen Brevet gemeinsam.
Wir
machen uns fein für die Nacht. Das bedeutet im Sprech der Randonneure,
die Lichtanlage anzuwerfen, sich wärmer anzuziehen,
und die obligatorische Warnweste überzustreifen. In Frankreich ist diese
für Radfahrer nachts Vorschrift, und sie wird in der Brevetszene auch
international getragen. Um kurz vor zehn Uhr sind wir bereit und meine
erste Nachtfahrt beginnt.
Und die Nachtfahrt ist fantastisch. Die Dämmerung verwandelt sich in
Dunkelheit, und wie an einer Schnur aufgereiht gleitet unsere Kolonne über
die kurvenlosen Landstraßen im Franche-Comté. Konzentration und
Navigation werden langsamer und wir neigen zu kleinen Fehlern, dennoch
finden wir bald zu einem neuen Rhyhtmus. Mehr als ein Auto je Stunde bekommen wir nicht zu Gesicht. Die Dunkelheit hellt sich bei Passieren der Dörfer durch Straßenlaternen etwas auf, aber die Häuser liegen schlafend da. In einem Dorf verwirren wir mit unserer reinen Anwesenheit ein paar Trunkenbolde, die gerade eine Party in einem Privathaus verlassen und auf der Straße herumtorkeln. Sonst herrscht Stille. Ein paar Tiere kann ich hören, ein paar Reifen- und Kettengeräusche vor und hinter mir, manchmal einen Bach.
Hinter Remiremont beginnt der
finale Anstieg über den Vogesenhauptkamm. Was wir auf dem Hinweg überquert haben, müssen wir auch zurück wieder bewältigen. Noch ein kapitaler Pass steht mir bevor, dann folgt eine langgezogene Abfahr und gut siebzig Kilometer Ausrollen bis nach Freiburg.
Wie im zweiten Teil des Hamburg-Brevets finde ich einen harmonischen Rhythmus. Unsere Gruppe verteilt sich wieder, wie bisher bei jedem Anstieg. Und überraschenderweise fahre ich mit den Schnelleren den Berg hinauf, als habe ich erst bei fast 300 Kilometern meine Form gefunden. Ich fühle mich nicht überragend fit; im Nachhinein betrachtet habe ich wohl zu wenig gegessen. Aber ich hinke nicht hinterher.
Die Ankunft bei der Auberge du Col du Bonhomme ist magisch. Mich durchfährt ein Schauer, als wir um halb drei Uhr Nachts unter Sternen auf dem 1.000 Meter hohen "Pass des Gutmenschen" ankommen. Die Herberge hat schon geschlossen, aber es herrscht reges Treiben. Ankommende Randonneure kleben sich die bereitliegenden Aufkleber in ihre Heftchen, Abfahrende ziehen sich ihre wärmste Bekleidung an. Die wohltuende Wärme über das Wissen, alle Anstiege gemeistert zu haben, kämpft mit der nächtlichen Frühlingskälte, die über dem Gebirge liegt.
Nun folgt eine dreißig Kilometer lange Abfahrt in die Rheinebene, bei der wir die gesammelten Höhenmeter vernichten. Sonst ist der Col du Bonhomme bei Radfahrern unbeliebt, weil sich der motorisierte Verkehr über die gut ausgebaute Passstraße schiebt. Jetzt liegt sie still unter uns, wie wir unseren Geschwindigkeitsrausch auf ihr genießen. Ich habe Regenjacke und -hose angezogen, aber keine langen Handschuhe dabei. Dies bremst meinen Rausch etwas, so dass ich als letzter unten ankomme. Meine erste Passabfahrt in umfassender Dunkelheit liegt hinter mir.
Wir rollen über die Pflastersteine der historischen Altstadt von Kaysersberg, in der tagsüber vor lauter Touristen mit dem Fahrrad kein Durchkommen ist. Es ist schon ein Anachronismus, dass wir hier fahren können. Wir fahren beeindruckt weiter. Über französische Landstraßen geht es zum Rhein, wobei die Geschwindigkeit immer weiter nachlässt. Ab und zu kann ich mir ein leises Stöhnen oder einen Seufzer nicht verkneifen. Bis hierher zu kommen hat einiges an Kraft gekostet, ich bin an meine Grenzen gekommen.
Wir legen noch eine Pause ein und sammeln unsere psychischen Kräfte, um in den Endspurt zu gehen. Bei Breisach geht es über den Rhein und wir sind wieder auf deutschem Boden. Ein paar Ausläufer des Kaiserstuhls liegen noch auf unserem Weg, dann erreichen wir Freiburg und die Dreisam. Wir schleichen im sonntäglichen Morgengrauen den Dreisamradweg hinauf. Einige Frühaufsteher auf Fahrrädern überholen uns. Leider müssen wir flussaufwärts fahren, und bis zum Ziel in Kirchzarten sind auf diese Weise noch einige Höhenmeter zu überwinden.
Dann haben wir es auf einmal geschafft. dreiundzwanzigeinhalb Stunden nach unserer Abfahrt sind wir wieder am Zeltplatz angekommen und betreten die Gaststube. Eine lange Tafel ist voll besetzt mit Randonneuren, die 400 Kilometer hinter sich gebracht haben. Es gibt eine warme Mahlzeit und ein Bier dazu, ungeachtet der Uhrzeit. Ich setze mich, bin jedoch zu keiner Unterhaltung fähig. So verabschiede ich mich, packe mein Rad ins Auto, fahre zum Haus meiner Eltern und lege mich schlafen.
Gegen Mittag wache ich wieder auf und fühle mich großartig. Ich habe erstaunte Zuhörer, die nach anfänglicher Unglaubigkeit Anerkennung zeigen. Natürlich bin ich auf das Geleistete stolz. Doch das Wichtige ist für mich, auf welchem Weg ich diese Leistung erbringen konnte. Unter Aufbietung ungekannter Kräfte und Schwächen, getragen von riesigen Glücksgefühlen. Und ich habe keinen Schaden davongetragen. Noch bis zum Nachmittag bemerke ich meinen überhöhten Pulsschlag, bis er sich normalisiert. Meine Arme, Beine, Nacken, Rücken fühlen sich gut an. Lediglich beim Abendessen halte ich nicht lange durch und gehe früh zu Bett.
Die Langstrecke hat es mir wohl angetan. Stressfreies dahingleiten, der Genuss wunderbarer Landschaften, neue Bekanntschaften, und neuentdeckte Wesenszüge meiner Selbst.
Gerne gestehe ich, dass ich nicht sofort an die nächste Stufe, die 600 Kilometer, gedacht habe. Terminsachen haben mir die innere Konfrontation abgenommen, den nächsten Brevet im Juni anzugehen. Nun konzentriere ich mich auf die bevorstehende Saison, die im April 2014 startet.