Montag, 4. Mai 2015

Auf der Suche nach der verlorenen Lust

Ein Schnippchen wollte ich schlagen, indem ich Schweizer Schokolade mit auf diesen 300er Brevet in die Schweiz nehme. So müsste ich sie nicht zu überteuertem Fränkli-Kurs an der Tankstelle kaufen. Aber man soll auch keine Eulen nach Athen tragen. Ich konnte ja nicht ahnen, dass ich die ganze Tour über keine Lust auf Schokolade haben würde. Die Tafel hat durch das eindringende Wasser gelitten, und es dann in einem Stück ins Ziel geschafft. Ähnlich erging es mir. Die Lust musste ich gegen Ende mit der Lupe suchen, mehrmals hat der Regen an meiner Kleidung genagt, und doch bin ich durch gekommen.

Wer es versteht, sich Lust zu machen, hat am Samstag sicherlich einen guten Start gehabt. Die Tage zuvor hatte ich den Wetterbericht gar nicht mehr gelesen, um mir eben jene nicht zu verderben. So setzte also schon auf dem Weg zum Frühstück Nieselregen ein, und vor dem Start habe ich die Regenklamotten angezogen.

Dominant war die Unlust nicht: Die vielen bekannten Gesichter im Augustiner in Freiburg ließen Freude aufkommen. Reinhold traf ich erst unmittelbar vor der Abfahrt, und in kurzen Worten verabredeten wir uns zu gemeinsamer Runde. Gleich vor Staufen wurde die Kameradschaft geprobt, als ich wegen einem Platten rechts ran fuhr. Reinhold leistete Unterstützung, ohne die dieser fitzelige kleine Glassplitter sich wohl länger als 20 Minuten hätte bitten lassen.

Die Strecke mit dem Motto "Bölchen" zielt nicht nur zum so bezeichneten Berg im Schweizer Jura, sondern nimmt auf dem Weg dorthin gleich noch den Pass am Schwarzwälder Belchen mit. Also ging es erst mal hinauf auf 1.000 Meter, begleitet von gemächlichem Regen. Reinhold und ich fuhren harmonisch nebeneinander den Anstieg hoch, wobei wir einen schönen Rhythmus fanden. Oben kamen wir dann im Sonnenschein an! Nach getaner Arbeit am Berg zeigte sich der Schwarzwald im Frühlingskleid, und die lange Abfahrt durch das Kleine Wiesental war geprägt von echter Lust. Auch der Rhein glänzte, als wir ihn in Bad Säckingen auf der antiken Holzbrücke durch einen Mittelaltermarkt passierten.

Der Appetitanreger Schwarzwald lag hinter uns, da ging es auch schon in den Jura. Dieses fantastische, belächelte und unbekannte Mittelgebirge wartete mit seinem Gegensatz aus sanften Hügeln und schroffen Kalkwänden auf. Die ganze Umgebung erstrahlte im kräftigsten Frühlingsgrün, und der Geruch des allgegenwärtigen Bärlauchs war tiefgehend halluzinogen. Eine Bühne für die pure Lust am Radfahren.

Steil verlief der Weg hinauf zum Chilchzimmersattel, dem Passübergang am Schweizer Bölchen. Zu allen Blickrichtungen türmten sich vertikale Kalkabrisse auf, während wir auf einem kleinen Sträßchen durch das satte Grün kurbelten. Hier ging ich es schon etwas langsamer an: 2.000 Höhenmeter Anstieg auf den ersten 100 Kilometern sind doch etwas ungewohnt. Oben im Gasthaus trafen wir viele andere Randonneure und stürzten uns lustvoll auf das Pasta-Buffet.

Ich gestehe, dass ich gerne noch ein Stündchen sitzen geblieben wäre. Gefühlt war der Brevet doch schon überstanden: Zwei Drittel der Anstiege hoch gefahren! Jedoch lediglich ein Drittel der Distanz... Reinhold schubste mich zurück in den Sattel und wir gingen in die verwinkelte Abfahrt, die glücklicherweise abgetrocknet war. Hinein in den Kanton Solothurn, den wir in einem langgezogenen Tal querten.

Es folgte der Kanton Bern, bei dessen Eintritt wir in die französischsprachige Schweiz wechselten. So ein Kantonswechsel geht natürlich nie ohne Passanstieg vonstatten. Diese kleine Weisheit behielt auch für den Übergang in den Kanton Jura Gültigkeit, welcher noch einmal eine Auffahrt auf nahezu 1.000 Meter erforderte. Diese Sträßchen haben es in sich; mal sanft, mal brutal, ziehen sie sich durch zerklüfteten Jura-Kalk. Die Abfahrt führte uns durch die verwunschenen und zerfurchten Gorges du Pichoux, wo nach stundenlanger Abwesenheit endlich wieder Regen einsetzte.

Und was für ein Regen. Eine Stunde Fahrt bis Solothurn zogen wir unsere Spur durch das Wasser, das in Bächen über die Straße lief. Der Regen wusch mir dabei auf der Stirn getrockneten Schweiß in die Augen. Das brannte, und wie selbstverständlich kamen Gedanken auf, warum ich das hier mache. Paris kam mir als Argument nicht in den Sinn, und so sammelte ich etwas Sturheit und wir fuhren weiter. In Delémont gab es noch eine kleine Stärkung, der Regen ließ nach, und mit den drei großen Anstiegen hinter und nur noch 100 Kilometern vor uns drehten wir in Richtung Freiburg.

Nichts desto trotz mussten wir noch aus dem Jura raus, und auch die kleineren Anstiege auf unserem Weg summierten sich. Mit der Lucelle überschritten wir die Grenze nach Frankreich, und ich atmete auf, als der Jura schließlich hinter uns lag. Die Lust auf die Flachstrecke am Rhein hielt sich in Grenzen, und meine Knie erzählten noch Geschichten von den bewältigten Bergen.

Und der Regen kam ein drittes Mal über uns. Zwar nicht so heftig wie im Jura, aber dennoch traf mich an dieser Stelle der Tiefpunkt des Brevets. Die Autoscheinwerfer in der Dunkelheit, die zerlaufenen Tropfen auf und hinter den Brillengläsern, der nasse Schmutz auf der Straße, die kargen französischen Landstraßen, der unten im Rheintal leuchtende Flughafen. Ich wollte ins Trockene, mit heißem Getränk und warmer Mahlzeit. Reinhold versuchte mich bis Bremgarten hinter der deutschen Grenze zu ziehen, aber ich mochte nicht mehr. Nur rollen konnte ich noch, und das vermutlich auch nur dank dem Rückenwind.

Reinholds Geduld musste endlos sein, denn tapfer wartete er so manches Mal auf mich. Ich wunderte mich, wie er noch über den Duft des Bärlauchs ins Schwärmen geraten konnte. Immerhin hatte der Regen aufgehört. Vorbei am Chemiewerk Ottmarsheim und am Atomkraftwerk Fessenheim, über den Rhein, und endlich an der Autobahnraststätte Bremgarten ins Warme. Das Abendessen, das wir eigentlich im Augustiner zu uns nehmen wollten, verlegten wir hierher, und genehmigten uns Bockwurst mit Kaffee. Das stärkte, und nach Freiburg rein konnte ich wieder halbwegs lustvoll treten.

Im Augustiner war der Abend noch in vollem Gange, und die eingelaufenen Randonneure saßen fröhlich beim Bier zusammen. In der Laune war ich leider nicht mehr; ich war zu müde und konnte auf das soeben Geleistete bloß etwas gleichgültig zurück blicken.

Die Befriedigung kam erst am nächsten Morgen. Ein Klacks war das, es hatte ja bloß drei Mal geregnet. Und gute Klamotten sind die halbe Miete, nicht einmal die Füße waren nass geworden. Auf nach Paris, ich bin durchtrieben von der Lust auf's Radfahren!

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