Donnerstag, 14. Dezember 2017

Es war gut, LEL zu fahren

Von meiner eigenen Courage war ich überrascht, als ich einen Startplatz im virtuellen Einkaufskorb hatte und bezahlen sollte. Natürlich wollte ich diese sagenhafte Veranstaltung namens London-Edinburgh-London (LEL) fahren. Jedoch haben mir die Logistik, die Kosten und der Aufwand des öfteren Zweifel gebracht. Schließlich siegte die Lust. Rückblickend fallen mir eine Reihe von Gedanken ein die mir zeigen dass es gut war, LEL zu fahren.

1. Wind


Wind kenne ich überhaupt nicht beim Radfahren. Am Hochrhein weht im späten Herbst mal ein Lüftchen. Und wegen meiner Statur weise ich immer auf meinen komparativen Vorteil beim Bergauffahren hin. Einen Heidenrespekt habe ich vor Norddeutschland, wo schon mal richtiger Wind geht. Ich mit meinen nicht mal 70 Kilo gegen den Wind, wie soll das denn gehen? Der pustet mich ja weg.

So dachte ich, bis ich in Edinburgh ankam. Der gemunkelte Wetterbericht kündigte Windgeschwindigkeiten von 60 Meilen pro Stunde an. Für den Rückweg nach London, und natürlich von vorne; oder zumindest von schräg vorne. Durch die Ebene der Fens. Ich Fliegengewicht komme da niemals durch. Also noch bis die Berge aufhören, dann steige ich in den Zug.

Aber ich bin Randonneur, und so fahre ich durch die Hügel der Wolds, deren Hecken links und rechts der kleinen Straßen flach geweht werden. Als die Hügel aufhören fahre ich einfach weiter. Es geht mit 13 Kilometern pro Stunde voran. Das frustriert ungemein, aber wie so vieles im Leben des Randonneurs ist es reine Kopfsache. Mein Zeitpolster ist groß genug, und auch mit dieser Geschwindigkeit komme ich London stetig näher. Dann treffe ich mal wieder eine Gruppe von Randonneuren und wir kommen ins quatschen. In Unterhaltungen vertieft vergißt man das böse Naturelement gelegentlich. Mit gemeinsamer Kraft kann man auch mal 17 Kilometer pro Stunde fahren.

Im Nachhinein betrachtet hat mich das Erlebnis dieses wahrhaftigen Gegenwindes zu einem vollkommeneren Radfahrer gemacht. Der Frust baut sich von alleine auf, aber ebendiesen gilt es zu überwinden. Wie so viele andere Widrigkeiten auf dem Weg des Randonneurs kann auch der Gegenwind durch die richtige mentale Einstellung gemeistert werden.

2. Gefährten


Sehr gerne fahre ich lange Brevets für mich alleine. Mir ist dabei wichtig, dass ich es autark schaffen könnte, ohne gute Zurede und ohne Windschatten. Das kann ich. Aber es ist auch schön, mit anderen Leuten Rad zu fahren. Und je größer die Veranstaltung, umso mehr andere hat man um sich herum, umso mehr der vielen Kilometer kann man neben anderen herradeln und reden. Dabei treffe ich viele alte Bekannte, die im Laufe der Jahre zu einem wesentlichen Bestandteil meiner Brevets geworden sind. Auch viele neue Gesichter spreche ich an, und daraus entwickeln sich neue Freundschaften. Gefährten auf langen Brevets sind eine Beziehungsform, die sich nirgendwo sonst findet.

3. Pennines


England ist flach, vielleicht hügelig. Dicht besiedelt, landwirtschaftlich ausgebeutet, von Autos durchtrieben. Das Konzept von LEL beinhaltet nun einmal einen Start in London, also müssen zunächst 400 Kilometer zurückgelegt werden bis man landschaftlich ansprechende Gefilde befährt. Aber dann wird es atemberaubend schön. Das Gebirge der Pennines liegt sanft und lieblich da, überzogen von satten Farben. Fels, Wiese, Schafe. Die Straße zieht sich unendlich flach den Anstieg zu Yad Moss hinauf, dem höchsten asphaltierten Pass der Insel.

4. Schottland


Als wäre das nicht schon Schönheit genug gewesen, folgt sodann Schottland. Nach skuriller Grenzszenerie fahren wir auf niedlichsten Landstraßen durch die Southern Uplands. Für tiefen Landschaftsgenuss brauche ich nicht unbedingt Mitfahrer. So kann ich vollständig in die geologische Welt Südschottlands eintauchen und wünsche mir, diese Intensität bei einem zukünftigen Schottland-Brevet einmal zu intensivieren. Die Anfahrt von London mit dem Rad brauche ich dafür nicht unbedingt.

5. Die Erfahrung wächst


Tatsächlich hatte ich schon in meinem Bericht zu Paris-Brest-Paris (PBP) 2015 angedeutet, LEL in Betracht ziehen zu wollen. Das habe ich in der Zwischenzeit völlig vergessen. Aber es ist doch interessant, wie durch PBP das Vertrauen in mir wuchs, unfassbare Distanzen auf dem Rad zu meistern. LEL ist nicht wegen der längeren Distanz schwerer als PBP. Die Erfahrung der verschiedenen Langstrecken, die ich gefahren bin, macht sich deutlich bemerkbar. So war ich am Tag nach PBP kaum in der Lage, auf meinem Rad zum Bahnhof zu fahren. Nun hatte ich bis LEL meinen Fahrstil und mein Rad derart optimiert, dass ich nach der Zielankunft ohne Probleme hätte weiterfahren können. Viel weiter.

6. Britische Landstraßen


Mit Straßen habe ich mich besonders intensiv beschäftigt; ganze 1430 Kilometer und 75 Stunden lang. Die Gewöhnung an den Linksverkehr war bereits auf dem Weg zum Start abgeschlossen. Abgesehen davon sind die englischen beziehungsweise schottischen Landstraßen doch besonders charakteristisch. Sie sind vollständig den geologischen Begebenheiten angepasst. In England verlaufen sie üblicherweise ganz pragmatisch steil und knapp über die Hügel. Schottland wartet mit höheren Bergen auf, über die Straßen mit minimalstem Gradienten hinweg geführt werden. Häufig sieht man nur grün, wenn die Wege von Hecken gesäumt sind. Diese biegen sich im Wind, halten ihn aber auch ein wenig vom Radfahrer ab. An Kreuzungen zeigen sich vielerorts historisch anmutende Wegweiser, freilich mit Entfernungsangaben in Meilen. Diese wirken nur auf den ersten Blick motivierend.

Britische Landstraßen sind jedoch gleichzeitig Rennstrecken, wie in so vielen anderen Regionen auch. Besonders in England sind die Distanzen zwischen Städten groß und die Pendelstrecken lang. Autofahrer überholen Radfahrer ohne abzubremsen. Es herrscht die Ansicht vor, dass auch diese Straßen für motorisierte Fahrzeuge gebaut wurden.

7. Vollpension


LEL ist eine reine Luxusveranstaltung. Zumindest in der Welt der sich selbst versorgenden Randonneure ist kein größeres Popoabwischen denkbar. Alle 60 bis 100 Kilometer kommt eine Kontrollstelle, an der man durchgefüttert wird, duschen und schlafen kann. Man kann eine vorher befüllte und dorthin gesendete Tasche plündern. Mit anderen quatschen und Strategien über den Haufen werfen, oder im Gespräch auf der Tischplatte einnicken. Sein Fahrrad reparieren lassen. Telefon oder GPS aufladen. Also, viel zu viel Luxus, den ich kaum benötige. Den nächsten großen Brevet möchte ich gerne mit einem geringeren Organisationsgrad angehen.

8. Viel Schlaf


So viel habe ich noch bei keinem Brevet geschlafen. Das Zeitlimit ist mit mehr als 116 Stunden überproportional generös. So ist eine Brutto-Durchschnittsgeschwindigkeit von 12,5 km/h erforderlich, um als "Finisher" gewertet zu werden. Bei Paris-Brest-Paris beträgt die Minimalgeschwindigkeit hingegen 13,3 km/h, bei kürzeren Brevets üblicherweise 15 km/h. Also ist LEL eine vergleichsweise gemütliche Ausfahrt, die mehr Zeit für Ruhepausen lässt.

9. Urlaub


Meiner Familie hatte ich versprochen mich zu erholen, wenn ich denn schon eine Woche wegfahren muss. Nun lässt sich darüber streiten, ob solch ein langer Brevet eine erholsame Fahrradtour darstellt. Zumindest ist es ein Genussbrevet mit ausreichend Zeit und Vollversorgung, so dass man auch mal innehalten oder ein paar Fotos schießen kann. Und wundersamerweise habe ich mich bisher nach keinem längeren Brevet körperlich so gut gefühlt; selbst nach einem 600er bin ich mehr erschöpft. Zwischenzeitliche Probleme mit Knien und Achillessehnen hatten sich verflüchtigt. Keine Muskelschmerzen. Sogar dem Rücken geht es gut, und meine Finger sind nicht taub. Lediglich ein paar Zehen müssen ihr Gefühl wieder finden.

10. Mein Fahrrad ausführen


Nachdem mein Fahrrad von Wheeldan nicht rechtzeitig zu PBP fertig geworden ist, kann ich es nun auf dieser richtig langen Brevetstrecke auf Tauglichkeit prüfen. Praktisch ohne körperliche Beschwerden komme ich im Ziel an, ganz im Gegensatz zu PBP mit meinem damaligen Rennrad. Ich kann nur betonen, dass ein passender Rahmen ganz viele Probleme lösen kann.

Außerdem sollte jeder Randonneur sich ernsthaft mit der Reifenthematik auseinander setzen. Hochwertige Reifen mit viel Volumen sind auf der Straße keinen Deut langsamer als schmale Rennradreifen. Im Gegenteil, sie sparen so viel wertvolle Kraft. An den Belag der vielbejammerten schottischen Straßen habe ich keinerlei Erinnerung - weil jene sich auf meinem Rad so anfühlten wie frischester Asphalt.

Eine andere Lösung als eine Lenkertasche auf einem Gepäckträger möchte ich ebenfalls nicht mehr haben. Die drei oder vier Kilogramm sind da vorne beim Fahren kaum wahrnehmbar, zudem habe ich alles stets griffbereit.