Dienstag, 2. Dezember 2014

Schachmatt am Mont Aigoual

Tim Krabbé ist Schachspieler. Als studierter Psychologe erstellt er leidenschaftlich Psychogramme seiner Gegner und versucht, ihre nächsten Züge zu bestimmen. Er ist auch irgendwie Sportjournalist, und natürlich Schriftsteller. Krabbé ist aber vor allem als Radrennfahrer geboren. In seinem Roman Das Rennen zeigt er, wie er sich seit frühester Kindheit dem Radfahren genähert hat, und wie der Wettkampfgedanke in ihm gereift ist. "Ich will nur gegen Schachfiguren auf Fahrrädern kämpfen," beschreibt er seine Ansicht dieser Leidenschaft.

Die Erzählung dreht sich um die Mont-Aigoual-Rundfahrt in den Cevennen am 26. Juni 1977. Krabbé nimmt sich damit der Herausforderung an, über Sport und Leidenschaft zu schreiben (und nicht Sport zu beschreiben). Ausschlaggebend für das Gelingen dieses Vorhabens ist sicherlich der Umstand, dass er dieses und einige hundert andere Amateur-Rennen selbst gefahren ist. Es handelt sich also um eine autobiographische Abhandlung eines einprägenden Radrennens, die den Leser im Präsens einsaugt.

Mont Aigoual (Quelle: Wikimedia)
Das Buch ist eine Liebeserklärung an ein Radrennen, ja an das Straßenrennen an sich. Dieses beschreibt er als Königsdisziplin des Radsports, in der Ausdauer, Taktik, mentale und Antriebsstärke, Leidensfähigkeit und Strategie zusammenspielen. Die Essenz der Erzählung ist, dass nicht medialer Rummel, nicht die Liga, nicht der Ruhm und nicht der Mythos ein Radrennen ausmachen---alleine der persönliche Einsatz, die Lust und das Leiden prägen das Erlebnis in die Erinnerung ein. Trotzdem---oder gerade deswegen---will er das Rennen unbedingt gewinnen.

Über die 137 Kilometer der Rundfahrt mit Start und Ziel in Meyrueis folgt der Leser dem Fahrer mit seinen Gedankengängen und Rückblicken hautnah. Bereits am Start weiß Krabbé, dass er Zweiter sein wird. Als großer Stratege ist ihm sein stärkster Gegner, Reilhan, bekannt. Dieser schlängelt sich durch das Rennen und fährt nie im Wind, dabei immerzu begleitet vom privaten Begleitwagen mit Papa am Lenkrad. Krabbé dagegen betrachtet sich als moralisch überlegenen Rennfahrer, der am Berg, im Sprint, auf windgepeitschter Hochebene und in der Abfahrt den Schmerz und innere Widerstände besiegt. "Das Leiden war am schönsten."

Über fünf Pässe geht es durch das Mittelgebirge, die Strecke zieht sich wie eine acht durch das Zentrum Meyrueis. Während die erste Hälfte von Schluchten mit kleineren Anstiegen und einer Hochebene geprägt ist, geht es in der zweiten Hälfte der Schleife auf den 1.567 Meter hohen Mont Aigoual. Im Anstieg kann Krabbé in Führung gehen, wird aber in der Abfahrt wieder eingeholt. Den Sprint auf der Zielgerade kann um zehn Zentimeter Reilhan für sich entscheiden. Auch wenn er das Rennen nicht gewinnen kann, ist die erlangte Freiheit sein größter Gewinn: "Ich gebe nur deshalb alles, weil es niemand verlangt." Durch den Sieg des Willens reift er zum moralischen Sieger.

Fotobeweis: Trinkflasche im Halter





Das Buch behandelt neben der Rennerzählung, von der man sich als Brevetbericht-Schreiber so manches Spannungselement abschauen kann, auch literarische Themen. Eines davon ist das Verhältnis von Bild und Erzählung. Krabbé erzählt dazu einen Radfahrermythos, der sich durch Fotos falsifizieren lässt. So hat der Legende nach Jacques Anquetil bei Anstiegen seine Trinkflasche aus dem Flaschenhalter genommen und in seine Trikottasche gesteckt, um das Rad zu erleichtern. Dieser psychische Trick half ihm, mentale Stärke zu entwickeln. Auf allen Fotos, die Anquetil im Anstieg zeigen, steckt seine Flasche jedoch im Halter. "[Die] Geschichte trifft die Seele des Rennfahrers, also ist sie wahr. Diese Fotos sind ungenau." So verhält es sich auch mit dem Denkmal Tom Simpsons, das eineinhalb Kilometer vor dem Gipfel des Mont Ventoux steht, obwohl Simpson bereits drei Kilometer vor dem Ziel zusammenbrach. "[U]m ein klares Bild zu vermitteln, bedarf die Wirklichkeit eines Hilfsmittels, der Anekdote."

Eine weitere literarische Abhandlung versteckt sich in der Heldenverehrung. Je mehr über (Rad-)Sport berichtet wird und je größer somit der Abstand zwischen Sportlern und Zuschauern wird, umso verklärter und entfremdeter wird deren Verhältnis zueinander. Dieser Konflikt wird von Krabbé veranschaulicht anhand eines Mädchens, das am Straßenrand steht und ihn anfeuert. Sie kennt ihre Idole nur aus Medien und verehrt das journalistische Klischee, weiß aber weder etwas über deren sportlerischen Hintergrund oder gar Innenleben. "Mit welchem Recht erhebt dieses Mädchen seine Stimme? [...] Ich hasse sie. [...] Für sie gibt es Radsport nicht mehr."

Das Rennen ist ein großer Titel der Fahrradliteratur. Sehr weit kann ich mitfühlen: Leiden und Willen sind auch die großen Themen der Randonneure. Manches kompetitive Element geht mir hingegen ab. Aber ich bin ja auch kein Rennfahrer. Noch nicht...

Danke an Dietmar Clever, der mich mit seinem Bericht dazu inspiriert hat, das Buch endlich einmal zu lesen. Allen Lesern eine frohe Adventszeit, in der sie vielleicht eine ruhige Minute finden, das Buch aufzuschlagen.

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